Schneegestöber 3 2022/23

    Der Arlbergeffekt   

Je mehr spuren, desto geringer die Lawinengefahr?


stark verspurtes Gelände im Skigebiet


In diesem Gestöber schauen wir uns den Effekt und seine Auswirkung auf die Lawinengefahr etwas genauer an.
Da dieser Effekt nicht nur am Arlberg eintritt, sprechen wir allgemeiner vom “Effekt der Variantenabfahrten“.


  Was ist Varianten fahren überhaupt?  


Unter Variantenfahren oder Freeriden wird das Skifahren und Snowboarden durch unberührten Schnee abseits der markierten und kontrollierten Skipisten in Bergregionen bezeichnet. Das sichere Beherrschen des Tiefschneefahrens und Kenntnisse der Lawinenkunde sind Grundvoraussetzungen für das Freeriden.
So wird es zumindest auf Wikipedia beschrieben.

Wenn wir diesen Absatz genauer beleuchten, fällt die Formulierung „unberührten Schnee“ auf. Beim Varianten Fahren rund um die Skigebiete findet man jedoch selten unberührten Schnee, außer man staubt die ersten Schwünge nach einem Schneefall ab. Die Begriffe ''viel befahre'', ''stark verspur'', ''nieder gepflüg'', treffen da schon besser zu. Wären die Abfahrten bzw. der Schnee immer unberührt, dann gebe es auch keinerlei Effekt auf die Lawinengefahr.

Ich würde Varianten Fahren daher als das Skifahren und Snowboarden abseits der gesicherten Pisten mit Benützung der Lifte ohne oder nur geringem zusätzlichen Aufstieg im Nahbereich der Skigebiete bezeichnen.



    Worum geht`s?   

Lea von Powderguide hat sich schon mal mit dem Thema befasst: Hier könnt ihr nachlesen, woher der Begriff stammt und was man wirklich tun müsste, um wirklich einen Sicherheitsgewinn zu erzielen.

Im Grunde geht es bei dem „Effekt der Variantenabfahrten“ darum, dass man durch eine starke Frequentierung die Hänge ständig zerpflügt, wobei Schneekristalle durch die mechanische Einwirkung zerstört werden. Das beschränkt sich aber auf den Bereich der Spur und hängt von der der Eindringtiefe ab.

Durch die Benützung der Liftanlagen wird ein schneller und einfacher Transport auf den Berg ermöglicht, dadurch werden Varianten Abfahrten oft mehrmals am Tag befahren und das von weitaus mehr Personen wie bei Skitouren im freien Gelände. Viele Befahrungen an einzelnen Tagen reichen aber noch lange nicht aus, um einen positiven Effekt auf die Lawinengefahr zu erzielen. Die Hänge müssen flächig, regelmäßig (am besten täglich) stark verspurt, zertrampelt, kleinräumig gesprengt werden und zwar von Beginn der ersten Schneefälle im Herbst bis Winterende.

Im Herbst und Frühwinter sind Abfahrten aber häufig noch nicht möglich, da eine zu gering mächtige Schneedecke vorherrscht. Für die Entwicklung eines frühwinterliches Altschneeproblem ist wenig Schnee jedoch perfekt.


    Der Prozess:   

Ziehen wir unsere Schwünge mit Skiern oder Snowboards in den Schnee, wirken Druck und Reibung auf die Schneekristalle und die Schneedecke ein. Die Verästelungen der Schneekristalle brechen, dadurch werden sie kleiner und rücken näher aneinander, was die Bindung verstärkt.

Dieser Vorgang wird auch Sintern genannt. Sintern ist ein natürlicher Prozess, der immer stattfindet, sobald die Schneekristalle den Boden erreicht haben und ist zugleich der Beginn der abbauenden Umwandlung. Formen wir mit den Händen einen Schneeball, findet auf der Skala der Schneekristalle ebenfalls Sintern statt.

Befindet sich eine mögliche Schwachschicht an der Schneeoberfläche und wird zerfahren, verändert sich im Bereich der Spuren die Kristallbeschaffenheit und auch die Oberflächenstruktur. Die Schwachschicht wird in diesem kleinen Bereich zerstört und ein Bruch breitet sich gegebenenfalls nicht mehr so großräumig aus.

Die Schneeoberfläche wird zudem variabel und man kann im Gegensatz zu ungerührten Hängen, wo eine Schwachschicht noch gleichmäßig und flächig vorhanden ist, von einer besseren Ausgangslage für die nachfolgenden Schneefälle sprechen.



    Beispiel:   

Nehmen wir an, es befänden sich weiträumig Oberflächenreifkristalle an der Schneeoberfläche: Eine perfekte Schwachschicht, sobald sie eingeschneit oder überlagert wird. Werden in diesem Gebiet die Varianten dann stark befahren, wird der Oberflächenreif genau dort, wo unsere Spuren sichtbar sind, etwas zerstört. Aber eben nur genau dort, nicht weiter links, rechts und auch nur die Kristalle an der Schneeoberfläche. Zudem kann sich sehr schnell neuer Oberflächenreif bilden!

Schwachschichten, die sich tiefer in der Schneedecke befinden, können höchstens gestört, aber nicht zerstört werden. Mit Schneeschuhen oder zu Fuß ist die Eindringtiefe etwas größer, dafür punktueller. Solche Spuren findet man auch deutlich seltener und kaum im klassischen Skigelände.

Um es noch etwas anschaulicher darzustellen, beschreibe ich das Ganze anhand einer Modeskitour wie der Lampsenspitze im Sellraintal. Gehen wir vom selben Szenario mit dem Oberflächenreif aus, an einem sonnigen Wochenende, an dem die Tour stark frequentiert ist. Bleiben zudem alle direkt im Hauptkorridor der Route, kann man ihn als stark verspurt bezeichnen. Wir können davon ausgehen, dass der Oberflächenreif teilweise zerstört wurde und die Schneeoberfläche variabel ist.

Der Hauptkorridor stellt dann nicht nur aufgrund seiner kupierten Geländeform ein geringeres Risiko für nachfolgende Schneefälle dar. Voraussetzung ist, dass keine tieferliegende Schwachschicht oder andere Probleme vorhanden sind.


Starkverspurter Hauptkorridor zur Lampsenspitze



Schneit es die darauffolgenden Tage, kann man jedoch weder den Oberflächenreif noch die Spuren der Vortage sehen. Halbwegs sichere Bedingungen liegen daher neben brandgefährlich. Man muss deshalb wissen, in welchen Bereichen und wie stark die Tour vor den Schneefällen verspurt wurde. Auch, dass und wo Oberflächenreif an der vorherigen Schneeoberfläche vorhanden war. Ist man ortskundig, kennt das Gelände und weiß über die anderen Fakten Bescheid, ist die Tour recht sicher.

Mit der Voraussetzung, dass man konsequent im Hauptkorridor bleibt und der Verlockung der anderen Pulverhänge widersteht. Für viele einfacher gesagt als getan! Das Ganze trifft natürlich auch auf Variantenabfahrten zu.



  Wann hat der „Effekt der Variantenabfahrten“ eine positive Auswirkung auf die Lawinengefahr und wann nicht?  


⬤ Schwachschichten wie Oberflächenreif, kantige Kristalle und Facetten die sich an der Schneeoberfläche entwickeln, können in den stark befahrenen Korridoren etwas zerstört werden, noch bevor sie von gebundenen Schneeschichten überlagert und zum Problem werden können.

⬤ Die Schneedecke setzt sich durch den Druck etwas schneller.

⬤ Im Frühjahr dauert es in stark verspurten Bereichen ein bisschen länger, bis man durchbricht, da die Kristalle im Bereich der Spuren um einiges komprimierter sind und Schmelzwasser schwerer in die Schneedecke abfließen kann. Es kann sich ein Wasserfilm an der Oberfläche der Spuren bilden, der durch die nächtliche Abstrahlung gefriert.

⬤ Die Aufstiegspur von Skitourengehern ist morgens um einiges rutschiger als der strukturierte Schnee direkt daneben.


Bei allen anderen Problemen gilt dieselbe Handhabung und Lawinengefahr wie im restlichen ungesicherten Gelände!



 Triebschnee:

Kann sich zu jeder Tages- und Nachtzeit bilden und von einzelnen Wintersportlern leicht gestört werden. Schwachschichten bilden häufig lockere Schichten, die zum Beispiel durch Schwankungen von Wind oder Temperatur während des Schneefalles entstehen. Vorteil: Bei guter Sicht kann man Triebschnee im Gelände meist gut erkennen.

⬤ Altschneeprobleme (GM1, GM5, GM4,..):

Auch im Variantenbereich und auf Modeskitouren muss ein Altschneeproblem kritisch beurteilt werden!

Abfahrtsspuren im Schnee sprechen nicht für die Sicherheit eines Hanges! Auch der dreißigste Skifahrer kann bei einem Altschneeproblem den bereits verspurten Hang auslösen, denn niemand kennt die genauen Hotspots, an denen ein Bruch initiiert werden kann.


Mäßig verspurte Rinne im Hintergrund, daneben eine Rinne nur mit unserer Spur



Schwachschichten vom Herbst und Frühwinter sowie alle weiteren, die sich tiefer in der vorhandenen Schneedecke entwickeln, werden von Wintersportler weder beeinflusst noch zerstört, insbesondere dann, wann noch keine Befahrungen möglich sind.

Das GM4 - kalt auf warm, warm auf kalt- ist ein besonders tückisches Problem, denn Schwachschichten entwickeln sich oft erst Tage nach dem Schneefall. Der Grenzbereich, in dem ein Temperaturunterschied entsteht, kann sich unterschiedlich tief in der Schneedecke befinden und ist meist sehr flächig ausgeprägt.

Die dünnen, kantigen Schichten, welche sich über oder unterhalb von Krusten entwickeln, werden durch Schneesportler nicht zerstört. Ist die Schwachschicht stark genug ausgeprägt und lagert ein passendes Brett darüber, können Brüche sich über größere Flächen ausbreiten und Lawinen auch im flachen, scheinbar sicheren Gelände ausgelöst werden.


⬤ Nigg Effekt und Graupeleinlagerungen:

Sind schwer zu erkennen und sehr giftig. Können nur entschärft werden, solange sie sich an der Schneeoberfläche befinden.


⬤ Neuschnee:

Werden die kritischen Neuschneemengen erreicht, herrscht Lawinengefahr auch im Variantenbereich. Durch die Schneelast können tieferliegende Schwachschichten gestört werden und Lawinen ein großes Ausmaß erreichen. Zudem sind Lockereschneelawinen aus steilem Gelände zu erwarten.


⬤ Gleitschnee:

hat einen ganz anderen Lawinenprozess und Befahrungen haben keinerlei Auswirkung auf diese Lawinenart.



   Diesen Winter greift der Effekt nur bedingt:   


Es konnten diesen Winter viele Abfahrten und Skitouren erst Mitte Jänner gemacht werden, weil es schlicht weg zu wenig Schnee hatte und die geringe Schneedecke überwiegend aus lockeren Schichten bestand. Manche Hänge bzw. Touren sind nach wie vor noch nicht oder kaum befahren. Die Schneedecke war und ist in manchen Bereichen in ihrem Aufbau von mechanischen Einflüssen durch den Menschen komplett unberührt. Wo das der Fall ist, sind die Schwachschichten, die sich im Frühwinter bis Jänner gebildet haben, im Variantenbereich gleichermaßen vorhanden wie in sonstigem freiem Gelände und je nach Gebiet, Höhenlage und Exposition unterschiedlich stark ausgeprägt. Der „Effekt der Variantenabfahrten“ greift in Bezug auf das vorhandene Altschneeprobelm nicht!


Skitourenpiste im Hauptkorridor auf einer Modetour. 



  Hartnäckiges Altschneeproblem 2022/23  

Das Altschneeproblem begleitet uns schon seit Wochen. Wie geht man damit um und bringt der Effekt der Befahrungen hier etwas?

Vorweg möchte ich erwähnen, dass man in Bezug auf die Lawinenprobleme schwer pauschalisieren kann, da sie gebietsweise stark variieren und jedes und jedes Problem anders zu handhaben ist.

Eine Schwachschicht im Altschnee (Altschneeproblem) kann aus vielen Gefahrenmustern bestehen. Sie sind unterschiedlich in ihrer entstehungsweise, aber eines haben sie gemeinsam: Sie sind im Gelände kaum erkennbar. Es weißen lediglich Setzungsgeräusche, Rissbildungen und Lawinen darauf hin. Mittels Schneeprofilerstellungen können vorhandene Schwachschichten zwar eruiert werden, jedoch kann keine sichere Hangbeurteilung gemacht machen. Der LWD kann Altschneeprobleme aber meistens sehr gut eingrenzen und weißt im Lawinenreport oder den Blogeinträgen darauf hin.

Es braucht eine Menge Vorwissen, fachliches Know-how, Prozessdenken, Wetter- und Gebietsbeobachtungen, Touren und Geländekenntnis, uvm. um die Lawinengefahr einschätzen zu können.

Kennt man auf der gewählten Tour den Schneedeckenaufbau und die Entwicklung der einzelnen Schichten nicht, ist es auch für ein geschultes Auge schwer, die Auslösewahrscheinlichkeit eines Hanges im Gelände einzuschätzen.

Da all die Punkte nur selten erfüllt werden können, ist die einzige Möglichkeit, sich bei einem ausgeprägten Altschneeproblem sicher auf Skitour oder Variantenabfahrten zu bewegen, die genannten Bereiche konsequent zu meiden bzw. diese nur im Gelände unter 30° Steilheit (wird am steilsten Bereich eines Hanges gemessen) aufzusuchen. Ansonsten spielt man Russisch Roulette.

Achtet zudem darauf, dass ihr nicht im Einzugsgebiet von steilen Hängen seid, die ihr im flachen auslösen könnt!

Eine gute Tourenplanung ist dabei der Schlüssel zum sicheren Abfahrtsspaß!

Es gibt nur wenige Tage pro Winter, an denen die Kombination aus Schwachschicht und Brett perfekt zusammenpasst und man auf gewisse Bereiche und Touren verzichten sollte. Schließlich wollen wir alle wieder lebendig und wohlauf vom Berg heimkehren, um diesen fantastischen Sport auch in Zukunft weiterhin betreiben zu können. Leider zählen diese Tage zu den lawinenreichsten mit Personenbeteiligung und den meist verzeichneten Todesopfern in der Saison.

Am Wochenende vom 3.-5.2.2023 führte eine Kombination viele Faktoren führten zu einer sehr lawinenreichen Zeit:

 Ein stark verzögerter Winterbeginn bislang waren nur wenige Touren waren.

⬤ Endlich Neuschnee!

⬤ Ein Wochenende mit schönem Wetter.

⬤ Vielleicht auch der immer noch verbreitete Irrglaube, dass wenig Schnee sicherer sei wie viel Schnee.

⬤ Der Faktor Mensch:

Es muss eine bestimmte oder steile Tour sein, sonst ist sie nix wert. Der Drang, etwas Krasses zu machen, um auf Sozial Media mehr Likes abzustauben, mangelndes Wissen, große Risikobereitschaft,…..

⬤ Trügerische Sicherheit:

Auf Modetouren passiert eh nichts, man ist die Tour schon oft gegangen und es ist noch nie was passiert, vorhandene Spuren, Pulverschnee, „Im Variantenbereich ist es nicht so gefährlich“,....

Die Kombination aus Neuschnee, begleitet von stürmischen Wind, bildete sehr störanfällige Triebschneepakete, die zu einer perfekten Konstellation aus Schwachschicht und darüber lagerndem Brett führte.


Das Wochenende präsentierte uns sehr eindrücklich, dass in weiten Teilen Tirols das Altschneeproblem stark ausgeprägt und flächig vorhanden ist und es auch keinen „Effekt der Variantenabfahrten“ gab. Zahlreiche Lawinenabgänge wurden gemeldet, leider auch mit einigen Todesopfern. Welche man auch vermeiden hätte könne. Hört auf die ausdrückliche Warnung vom Lawinenreport, meidet die angegebenen Bereiche und lasst euch nicht von der trügerischen Sicherheit im Gelände beirren, wenn schon Spuren im Hang sind!



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