Schneegestöber 3 | 2021/22


Von Lawinen lernen

Verknüpfung von Theorie und Praxis

Welches Lawinenproblem herrscht vor, in welcher Höhen- und Expositionslage ist es vorhanden, wie kann ich es erkennen, kann ich es überhaupt erkennen, auf was muss man achten, warum gehen die anderen weiter- ist es doch sicher, habe ich die richtige Entscheidung getroffen?

Der Schnee ist super, soll ich es doch riskieren,…..?

Fragen über Fragen, aber genau das ist wichtig: sich Gedanken zu machen und nicht unüberlegt loszugehen. Ich nenne solche Fragen auch gerne meine „Lebensversicherung“.


Gleich vorweg sollte man natürlich partout vermeiden, eine Lawine auszulösen. Im Fall, dass doch mal eine abgeht, egal ob man selbst oder jemand anders sie ausgelöst hat oder sie spontan abgegangen ist, kann man daraus einiges lernen. Am besten lässt man dabei das Ganze nochmals Revue passieren, von Tourenplanung bis zur Entscheidungsfindung.

Um das zu veranschaulichen, schauen wir uns einen Lawinenabgang genauer an, der sich letzte Woche am 1.12.2021 in den westlichen Tuxer Alpen ereignet hat.


Die Eckdaten zur Lawine:

Schneebrettlawine der Größe 2: Klassische Skitourenlawine

Exposition Nord auf ca. 2450m

Die Schneebrettlawine wurde um die Mittagszeit von einem Skitourengeher, der sich in der Abfahrt befand, ausgelöst.

Lawinenproblem: Altschneeproblem gekoppelt mit einem Triebschneeproblem, gut im Schneeprofil erkennbar (ECTP2).


Die Lawinensituation:

Für den 1.12.2021 ist laut Lawinenreport die Gefahrenstufe 3, erheblich ausgegeben. Begründung dafür ist das stark verbreitete Altschneeproblem (genauere Beschreibung siehe Gestöber 2), dass vorwiegend in Schattenhängen (NW über N bis O) oberhalb der Waldgrenze vorherrscht. Zudem konnten sich mit Zunahme des Windes störanfällige Triebschneeansammlungen in allen Expositionen oberhalb der Waldgrenze bilden.

Im mittleren Teil der Schneedecke befinden sich kantige Kristalle (aufgrund der aufbauenden Umwandlung), die als Schwachschicht fungieren. Diese Schichten sind vor allem dort vorhanden und relevant, wo vor den Schneefällen Ende November bereits eine geschlossene Schneedecke vorherrschte. Die damalige Schneeoberfläche kühlte in den zwei Schönwetterphasen im November bei kalten Temperaturen, trockener Luft und klaren Nächten durch die Abstrahlung stark aus. Der dadurch entstandene, große Temperaturunterschied ließ die aufbauende Umwandlung voll werkeln und das teilweise in der ganzen Schneedecke!

Aufgrund des Schneemangels waren nur wenige Geländetouren sinnvoll machbar, deshalb  kann man davon ausgehen, dass es keine bzw. wenige Hänge gibt, die so viel befahren wurden, dass die Schwachschicht zerstört worden wäre. Dort wo die Schwachschicht vorhanden ist, ist sie also auch flächig und relativ gleichmäßig ausgeprägt, was wiederum die Bruchausbreitung fördert. Das geringmächtige Schneebrett oberhalb der Schwachschicht begünstigt zudem eine gute Bruchinitiierung: Es reicht das Gewicht einer einzelnen Person, um einen Bruch zu produzieren. Die Schneeoberfläche aus kantigen Kristallen wurde von den Schneefällen Ende November bis einschließlich 1.12. (Schneefall noch am Morgen) überlagert.

Der dabei auflebende und gebietsweise stürmische Wind hat zudem Alt- und Neuschnee intensiv verfrachtet. Die so entstandenen Triebschneepakete  eignen sich bestens als das „Brett“ einer Lawine. Bei dieser Mischung kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Lawinen leicht auslösbar sind. Defensiv unterwegs sein ist also die Devise.

Für den 1.12. war schönes Wetter samt Temperaturanstieg und starkem bis stürmischen Wind prognostiziert. Wir gehen also davon aus, dass sich im Laufe des Tages noch weitere frische und störbare Treibschneepakete bilden. Bei guter Sicht und mit etwas Erfahrung kann man Triebschnee im Gelände aber meist gut erkennen.

 

Windfahnen am Gipfelgrat

Die Tourenwahl:

Ohne sich die Ski zu ruinieren ist im Gelände noch nicht viel sinnvoll machbar, darum bevorzugen wir die schneereicheren Gebiete mit gutem Untergrund. Die Brennergegend hat durch die SW-Strömung einiges mehr vom weißen Gold abbekommen wie das Sellraintal und das Gelände ist dort auch günstiger für eine Frühwintertour. Die Entscheidung fiel auf das Naviser Kreuzjöchl, denn im unteren Teil kann man auf die bereits präparierte Rodelbahn ausweichen, falls die Abfahrt durch den Wald noch nicht ohne Steinkontakt möglich ist. Ab der Hütte ist das Gelände kupiert und recht flach. Die dann folgenden steileren Hänge bis zum ersten Kreuz, die vermutlich eingeblasenen sind, kann man mit guter Spurwahl orographisch links über den Rücken etwas entschärfen.

Trotz der Expositionslage (W, NW, N) ist die Tour zumindest bis zum Flachstück kurz vor dem Gipfelanstieg für mich lawinentechnisch mit geringem Risiko vertretbar. Offen ließ ich mir allerdings, ob die Letzten 200 hm zum Gipfel des Naviser Kreuzjöchels vernünftig machbar sind. Da bedarf es einer Einschätzung vor Ort.

 

Tour und Verhältnisse im Gelände:

Bis etwas oberhalb der Stöcklalm gab es guten, aber gebunden Pulver und so gut wie keinen Wind. Die Blicke auf Gipfel und Kämme zeigen aber etwas anderes: Soweit das Auge reichte sind überall Schneefahnen zu sehen. Auch das ein oder andere bereits abgegangenen Schneebrett der benachbarten Berge kann man mit interessiertem Blick erhaschen. Beides sind klare Warnzeichen, die man unbedingt beachten sollte. Die eigentliche Normalroute, die über die etwas steileren W, NW, N Hänge führt, ziehen wir nicht in Betracht, da sie wie erwartet eingeblasen sind und das Altschneeproblem mit hoher Wahrscheinlichkeit auch vorhanden ist. Wir behalten also unseren Plan bei und wählen die Spur über den Rücken.

Kaum über die Waldgrenze begrüßt einem der stürmische, kalte Wind. Dementsprechend sieht auch die Schneeoberfläche aus. Die Windzeichen sind nicht übersehbar, Windgangeln und -dünen, freigefegte schneearme Stellen neben schneereichen, mit Triebschnee gefüllten Bereichen, an jeder Erhöhung Windfahnen. Und zu spüren bekommen wir den kalten, stürmischen Wind auch! Brrr! In dem Bereich zwischen Waldgrenze und der Flachstelle (in Nähe des ersten Kreuzes), kann man bewusst oder auch unbewusst kleine Stellen des störbaren Triebschnees auslösen. Toller Vorführeffekt, aber auch ein klares Warnzeichen!


Deutliche Windzeichen 


Oben angekommen sehen wir schon fast lehrbuchartig wie der Wind den Schnee über den Grat in die Leeseite, in diesen Fall die steileren N und NW Hänge, ablagert. Die Wechten, die sich gebildet haben, sind ein weiteres Gefahrenzeichen für Triebschnee. Der Wechtenkeil zeigt dabei in Richtung Leeseite, wo der verfrachtete Schnee als Triebschneepaket abgelagert wird. Als kleine Hilfestellung, um sich den Unterschied von LUV (von dort kommt der Wind her) und Lee (dort wird der Schnee abgelagert), besser zu merken, hier eine Eselsbrücke: LEE ist le(e)bensgefählich.



Der erste Hang, den man bis zum Grat hinauf gehen muss, ist schätzungsweise bis an die 30° steil, es ist ein Schattenhang (N, NW), wir befinden uns bereits oberhalb der Waldgrenze (ca. 2350-2400m) und es handelt sich um einen Leehang. Des Weiteren wissen wir bereits vom Lawinenreport, dass in Schattenhängen oberhalb der Waldgrenze ein Altschneeproblem vorhanden ist, das können wir aber leider weder an der Oberfläche sehen noch anders wahrnehmen. Setzungsgeräusche, Risse im Schnee, oder frische Lawinen können Anhaltspunkte für ein Altschneeproblem liefern, oder wir graben ein Schneeprofil. Jedenfalls muss das Altschneeproblem im Köpfchen abgespeichert und auch abrufbar sein!

Der erste Hang Richtung Gipfel ist somit schon fraglich. Es sind aber schon Leute raufgespurt, ohne dass dabei eine Lawine abgegangen ist.

 „Hm, ist es dann doch sicher?“

Aufstiegs- und Abfahrtspuren sagen nicht aus, ob ein Hang sicher oder unsicher ist! Auch der zwanzigste Tourengeher kann einen sogenannten Hotspot (störbare Stelle) treffen und erst dann geht eine Lawine ab.

Mit Sicherheitsabständen und etwas höheren Risiko könnte man es eventuell schon wagen. Dennoch komme ich recht schnell zu dem Entschluss, den Gipfel auszulassen. Warum? Der erste Hang birgt bereits ein erhöhtes Risiko, am Grat weht es einem grausig um die Ohren, die Gipfeljause wäre auch ungemütlich, zudem kommt für mich die Abfahrt definitiv nur über den Aufstiegsweg (Grat, Rücken) infrage und ist somit alles andere als lohnend.

In den anderen Abfahrtsvarianten herrscht überall das Altschneeproblem, die Steilheit für eine Lawine ist ausreichend groß und Triebschnee liegt auch drin. Klar wäre genau dort der Schnee gut und die Abfahren spaßig – vorhandene Spuren sehen gut aus. Aber der Winter ist noch lang, da warten noch viele tolle Powderturns auf uns!

Ich bereite mich also auf die Abfahrt vor und grabe noch ein Schneeprofil. Während ich meine Nase in den Schnee steckte und die Schichten genauer unter die Lupe nehme, raschelt es anständig und es löst sich in den steileren Gipfelhängen eine Schneebrettlawine. Der Verzicht auf den Gipfelhand war heute eindeutig die richtige Entscheidung!

    

 
Zum Glück ist die beteiligte Person mit dem Schrecken davon gekommen. Ausgelöst wurde das Schneebrett in der Abfahrt an einer schneearmen Stelle. Die Lawine passte perfekt zu dem vom Lawinenreport geschilderten und hier bereits mehrmals erwähnten Lawinenproblemen.


Schneebrettlawine Naviser Kreuzjöchl 


Vergleich von Theorie und Praxis:

Für mich ist die beobachtete Lawine eine Bestätigung meiner Überlegungen, aber trotzdem nehme ich sie zum Anlass, nochmals genau Revue passieren zu lassen, wie meine Tour heute verlaufen ist. Meistens bekommen wir kein so direktes Feedback für unsere Entscheidungen. Umso wichtiger ist es, sich auch wenn nichts passiert selbstkritisch zu kontrollieren und zu hinterfragen, ob man die Verhältnisse richtig eingeschätzt hat, ob man einen Hang vielleicht auch gefahren wäre, das Problem und die Gefahrenzeichen überhaupt erkannt und wahrgenommen hat, seine eigene Risikobereitschaft überschritten hat, oder eben nicht.

Das Debriefing nach (oder auch während) der Tour mit der Gruppe, oder auch für sich allein ist wichtig. Aber auch vor der Tour, lohnt es sich, bewusst darüber nachzudenken, was wir für Verhältnisse erwarten (Schneehöhe, Schneebeschaffenheit, liegt überhaupt genug Schnee für die gewählte Tour,….). Diese Erwartung können wir dann im Gelände mit der Realität abgleichen. Auch wenn man mal komplett daneben lag, es bleibt einem im Gedächtnis!

Jetzt oder spätestens bei einem gemütlichen Bier nach der Tour, sollte man das ganze nochmals Revue passieren lassen und sich selbst kritisch kontrollieren und hinterfragen, Aber nicht nur bei einem Lawinenabgang, sondern macht euch bereits zu Hause über die erwarteten Verhältnisse Gedanken und gleicht sie dann im Gelände ab. Auch wenn man mal komplett daneben lag, es bleibt einem im Gedächtnis.


Denn durch Kopplung und Vergleich von Theorie und Praxis im Gelände, 
lernt man.
Schnee und Gegebenheiten wahrnehmen, sehen, spüren, vergleichen und abspeichern!




Artikel auch auf Powderguide

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen